Mit Füßen getreten: Ausbeutung und Umweltzerstörung in der weltweiten Produktion von Schuhen und Leder
Ob Indien oder Bangladesch, ob Indonesien oder Türkei: Bei der Produktion von Schuhen und Leder kommt es weltweit zur Verletzung von Menschenrechten und Umweltzerstörung. Unternehmen wie Deichmann, Zalando oder Wortmann (Tamaris) betreiben ihr Geschäft mit diesen Produkten. Damit das EU-Lieferkettengesetz daran etwas ändert, muss es stärker ausfallen als das deutsche Lieferkettengesetz!
In Ranipeth, Indien, sterben zehn Mitarbeiter einer Gerberei, als die Mauer eines Klärbeckens bricht – sie werden unter einer Schlammlawine begraben[1]. In Hazaribagh, Bangladesch, leiden Anwohner*innen von Gerbereien unter Haut- und Atemwegskrankheiten – die Stadt ist durch die Industrieabfälle der Gerbereien einer der zehn giftigsten Orte weltweit[2]. In Indonesien müssen Kinder ihren Müttern in Heimarbeit helfen, Schuhteile zu nähen – die Aufträge werden in der viel zu knapp kalkulierten Zeit sonst nicht rechtzeitig fertig[3]. In der Türkei fertigen zahlreiche Geflüchtete aus Syrien ohne Verträge in Kleinstbetrieben Schuhe, Leder oder Gürtel – und sind weder gegen Arbeitgeberwillkür noch Krankheit abgesichert[4]. In China leiden Arbeiter*innen aus Turnschuhfabriken unter Benzolvergiftungen – sie werden an ihren Arbeitsplätzen kaum geschützt und erkranken überdurchschnittlich oft an Krebs[5]. In Pakistan verschärfen die wirtschaftlichen Verwerfungen in der Corona-Pandemie die strukturellen Probleme der Gerberei-Arbeiter*innen – der Lohn wurde nicht oder unregelmäßig gezahlt, das Einkommen ist gesunken, Hunger ist die Folge.[6]
Wo auch immer zivilgesellschaftliche Organisationen die Situation in der weltweiten Schuh- und Lederindustrie genauer unter die Lupe nehmen, finden sie gravierende Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzungen. Arbeiter*innen und Anwohner*innen von Gerbereien und Schuhfabriken sind die Leidtragenden. 2020 wurden 87,6% aller Schuhe in Asien produziert[7] – hier liegt also der Schwerpunkt der Produktion aber ebenso der Missstände in der Schuhindustrie. Auch die Schuhe für den europäischen Markt stammen zu einem großen Teil aus Asien – unter den Top 10 Importländern der EU für Schuhe sind China, Vietnam, Indonesien, Indien, Kambodscha und Bangladesch.[8] Leder bezieht die EU aus der ganzen Welt – unter anderem aus Brasilien, den USA, Indien, Nigeria und der Türkei.
Wo die verantwortlichen europäischen Unternehmen an den Anfängen der Lieferketten nicht ausreichend hinschauen, verschärfen sich die strukturellen Probleme, die Menschenrechte aushöhlen. So sind in der Schuhherstellung informelle Beschäftigungsverhältnisse wie Heimarbeit oder illegale Tagelöhnerarbeit weit verbreitet. Außerdem schränken Regierungen und Arbeitgeber*innen die Arbeiter*innen in ihrer Vereinigungsfreiheit und ihrem Recht auf Kollektivverhandlungen ein. Gesetzlich garantierte Komitees für Beschäftigte existieren nicht oder nur auf dem Papier. Regierungen erlassen Gesetze, die die Gründung von Gewerkschaften nahezu unmöglich machen. Arbeitgeber*innen oder staatliche Behörden hindern Arbeiter*innen systematisch daran, sich zusammenzuschließen oder sich einer Gewerkschaft anzuschließen – zum Teil mit Gewalt, häufig auch mit anderen Repressalien wie Kündigungen und schwarzen Listen. Beschwerdesysteme, mit denen Betroffene die Missstände bei den großen Kunden – also den Unternehmen in Europa – anprangern könnten, funktionieren oft nicht.
Die Import- und Exportbeziehungen von Schuhen und Leder auf staatlicher Ebene sind in Handelsstatistiken für gewöhnlich gut dokumentiert. Trotzdem können Arbeiter*innen und Anwohner*innen der Schuhfabriken nur selten einen direkten Zusammenhang zu den verantwortlichen Unternehmen in Europa herstellen. Noch seltener gelingt dies bei Gerbereien. Der Grund: Wenn es um ihre konkreten Lieferketten geht, ist die Schuhbranche intransparent. Die großen Einzelhändler in Europa[9] wie Deichmann, Wortmann (z.B. Tamaris, S.Oliver Shoes), Foot Locker oder die Ara-Gruppe (z.B. Ara, Lloyd, Salamander) hüllen ihre Lieferketten ebenso in Nebel[10] wie die unbekannteren Herstellerunternehmen. Auch bei den großen Moderiesen wie H&M[11], Zalando oder Otto[12] steht das Thema Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen in der Schuh- und Lederproduktion noch viel zu wenig auf der Tagesordnung. Bei Recherchen in verschiedenen Produktionsländern tauchen die Unternehmen dann jedoch als Kunden von Zulieferbetrieben auf, in deren Umfeld Menschenrechtsverletzungen, vergiftete Abwässer, Böden und Luft nachgewiesen werden – beispielsweise waren 2019 Deichmann und H&M unter den europäischen Hauptkunden für Lederschuhe aus Indien.[13]
Um diese Situation systematisch zu verbessern, greift das deutsche Lieferkettengesetz zu kurz. Das Gesetz beschränkt sich auf Unternehmen ab einer Größe von 3.000, später 1.000 Mitarbeiter*innen. Damit bleiben zahlreiche Unternehmen selbst in Risikobereichen wie der Schuh- und Lederherstellung außen vor. Die Schuhbranche ist von einer Aufteilung in zahlreiche kleinere Unternehmen in Einzelhandel (online oder stationär) und Schuhproduktion geprägt, anstatt durch Großkonzerne – Verantwortung darf sich dann erst recht nicht auf große Firmen beschränken. Nicht umsonst gilt die Sorgfaltspflicht, die die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte festhält, für alle Unternehmen.
Außerdem ist es fatal, dass das deutsche Lieferkettengesetz zwischen direkten und indirekten Zulieferern unterscheidet und indirekte Zulieferer nur bei substantiierter Kenntnis von Menschenrechtsverletzungen stark berücksichtigt werden müssen. Beim Verkauf von Schuhen setzen sich neue Geschäftsmodelle durch. Handelsunternehmen wie Zalando haben kaum Eigenmarken, sind jedoch ein großer Marktplatz für andere Schuhhersteller. Lebensmitteldiscounter wie Lidl oder ALDI verkaufen Schuhe als Aktionsware oder im Online-Shop. Deren direkte Zulieferer sind deutsche Schuhunternehmen. Die eigentliche Produktion erfolgt dann aber in Schuhfabriken und Gerbereien, die beispielsweise indischen oder pakistanischen Unternehmen angehören und dann als indirekte Zulieferer der großen Einzelhändler gelten.
Die Arbeiter*innen und Anwohner*innen der Produktionsstätten in der gesamten Lieferkette brauchen weitreichende Arbeits- und Umweltschutzmaßnahmen und effektiven Zugang zu Beschwerde- und Abhilfesystemen. Dazu zählt auch, dass Unternehmen haftbar gemacht werden können, wenn sie nicht ausreichend vorsorgen, um die Menschen entlang der Lieferketten zu schützen.
Damit die Rechte der Arbeiter*innen in der Schuhindustrie nicht länger mit Füßen getreten werden, muss ein europäisches Lieferkettengesetz die Risikovorsorge entlang der gesamten Lieferkette stärken – sonst droht weiterhin ein Hin- und Herschieben von Verantwortung zwischen Einzelhandel, Industrie und Zulieferern. Und das europäische Lieferkettengesetz muss gerade bei Risikoprodukten wie Schuhen und Lederwaren alle Unternehmen umfassen – unabhängig von der Unternehmensgröße und der Art der Geschäftsbeziehung zwischen den Unternehmen. Nur so kann es einen besseren Schutz der Arbeiter*innen und Anwohner*innen weltweit erreichen – ob in Indien, Bangladesch, der Türkei oder anderswo.
[1] Vgl. https://cividep.org/wp-content/uploads/2017/04/Ranipet-Tanneries-CETP-Mishap-Report-compressed.pdf .
[2] Vgl. https://www.greencross.ch/wp-content/uploads/uploads/media/pollution_report_2013_top_ten_wwpp.pdf, https://www.greencross.ch/wp-content/uploads/uploads/media/pollution_report_2016_top_ten_wwpp.pdf, https://togetherfordecentleather.org/wp-content/uploads/2021/08/Leather-products-from-Bangladesh_final.pdf und https://webshop.inkota.de/node/1523
[3] Vgl. https://webshop.inkota.de/produkt/download-studie/studie-zwei-paar-schuhe-indonesische-lederschuhproduktion-und-arbeitsrechte .
[4] Vgl. https://www.suedwind-institut.de/files/Suedwind/Publikationen/2021/2021-21%20Factsheet%20Leder%20T%C3%BCrkei_fin.pdf und https://webshop.inkota.de/produkt/download-studie/studie-hier-laeuft-was-schief-arbeitsbedingungen-der-tuerkischen-schuh-und .
[5] Vgl. https://webshop.inkota.de/produkt/download-studie/studie-so-wird-ein-schuh-draus .
[6] Vgl. https://togetherfordecentleather.org/wp-content/uploads/2021/10/Corona-Chronicles.pdf , https://togetherfordecentleather.org/wp-content/uploads/2020/11/Situation-Analysis-COVID-19-Tannery-Bangladesh.pdf und https://webshop.inkota.de/node/1632 .
[7] Vgl. https://www.worldfootwear.com/yearbook.html .
[8] Vgl. https://wits.worldbank.org/CountryProfile/en/Country/EUN/Year/2019/TradeFlow/Import/Partner/by-country/Product/64-67_Footwear .
[9] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/510999/umfrage/top-10-der-groessten-schuh-und-lederwarenhaendler-in-europa-nach-umsatz/ .
[10] https://www.fashionrevolution.org/about/transparency/
[11] https://hmgroup.com/wp-content/uploads/2021/03/HM-Group-Sustainability-Performance-Report-2020.pdf
[12] An der Unternehmensbefragung 2022 des Bündnis Together for Decent Leather haben Zalando und Otto sich beteiligt, H&M wurde nicht befragt. Die Selbstauskunft von Zalando und Otto in der Befragung zeigt Lücken bei der unternehmerischen Sorgfaltspflicht für die Betroffenen von Menschenrechtsrisiken in den Lieferketten für Schuhe und Lederprodukte bei beiden Unternehmen auf. Zum Beispiel gibt es keine effektiven Beschwerde- und Abhilfemechanismen für die Rechteinhaber*innen.
[13] Vgl. https://togetherfordecentleather.org/wp-content/uploads/2021/05/LeatherProductsFromIndia.pdf