Untragbare Zustände: Wie unsere Kleidung hergestellt wird
Ausbeutung, sexuelle Belästigung, ein Klima der Angst: Die Kleidung, die wir täglich tragen, stammt oft aus unhaltbaren Arbeitsbedingungen. Für viele Näher*innen ist ein würdevolles Leben nicht möglich – weder in Asien, noch in Lateinamerika oder Europa. Ein starkes EU-Lieferkettengesetz kann Abhilfe schaffen.
259 Menschen starben, als im September 2012 die Fabrik Ali Enterprises in Pakistan abbrannte.[1] Mehr als 1.100 Menschen starben, als im April 2013 die Fabrik Rana Plaza in Pakistan einstürzte.[2] Beide Fabriken hatten Kleidung für den europäischen Markt produziert. Durch die Unglücke wurde vielen Menschen in Europa erstmalig klar: Unsere Jeans, T-Shirts und Hemden stammen häufig von Arbeiter*innen, die ausgebeutet und krankgemacht werden. Viele verbinden diese Probleme vor allem mit Ostasien und nehmen an, dass die Zustände in Europa besser sind: „Made in Europe“ suggeriert Qualität und gute Produktionsbedingungen. Deutsche und europäische Modekonzerne wie Hugo Boss, Esprit und Co. nutzen das Label: Sie lassen im großen Stil in Osteuropa produzieren. Doch auch in osteuropäischen Textilfabriken herrschen teils unzumutbare Bedingungen. Hungerlöhne, Drohungen und Arbeitsrechtsverletzungen gehören auch hier zum Alltag.[3]
Das zeigt: Menschenrechtsverletzungen in der Textilbranche gibt es nicht nur in Asien. Sie treten überall auf – auch in Lateinamerika und sogar in der EU. Um daran wirklich etwas zu verändern, wird das deutsche Lieferkettengesetz nicht ausreichen: Eine wirkliche, nachhaltige Veränderung in der globalen Textilindustrie wird es nur mit einem starken, europäischen Lieferkettengesetz geben.
Osteuropa, Asien, Lateinamerika: Ein weltweites Problem
In Bulgarien, Kroatien, Serbien und bis zum Kriegsbeginn auch in der Ukraine nähen 120.000 Beschäftigte alleine für den deutschen Markt. Die Fabriken beliefern deutsche Marken wie Hugo Boss, Gerry Weber oder Esprit. Die Gehälter der Beschäftigten reichen durchweg nicht zum Überleben. Viele arbeiten daher noch in Zweit- und Drittjobs. In Akkordzeiten wird ihnen der Urlaub gestrichen. Melden sie sich krank, wird ihr Lohn gekürzt. Viele Näher*innen sind chronisch erschöpft. Wer sich wehrt oder gewerkschaftlich organisiert, ist bedroht. Betroffen sind vor allem Frauen, die mit rund 90 Prozent den Großteil der Beschäftigten in Textilfabriken ausmachen.[4]
Auch in Asien und Lateinamerika ist ein würdevolles Leben für die Arbeiter*innen in der Textilindustrie oft nicht möglich. Der Arbeitsdruck ist extrem hoch: Viele Arbeiter*innen verzichten sogar auf Toiletten- und Essenspausen, um die Produktionsziele zu erreichen. Frauen werden häufig beschimpft oder sexuell belästigt. Ein Klima der Angst verhindert, dass sich die Arbeiter*innen zur Wehr setzen: In vielen asiatischen Produktionsländern werden Arbeiter*innen aktiv daran gehindert, sich für die eigenen Rechte einzusetzen – tun sie es doch, werden sie gefeuert, bedroht oder inhaftiert.[5] Ebenso in Mittelamerika: Alleine in El Salvador stellte die Staatsanwaltschaft 2019 20 Fälle von unterdrückter Gewerkschaftsfreiheit fest.[6] Die angezeigten Fälle bilden aber nur die Spitze des Eisbergs. Aus Angst ihren Job zu verlieren wagen es die Arbeiter*innen in den meisten Fällen nicht, Arbeitsrechtsverletzungen anzuzeigen. Während der Corona-Pandemie hat sich der Druck auf die Arbeiter*innen weltweit weiter erhöht, da viele von ihnen keine Löhne bekommen haben oder entlassen wurden.[7]
Das deutsche Lieferkettengesetz ändert in der Textilindustrie zu wenig
Das 2021 verabschiedete Lieferkettengesetz soll die Lage in den Lieferketten deutscher Unternehmen verbessern: Ab 2023 sind große Unternehmen erstmals dazu verpflichtet, auf Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren Lieferketten zu achten. Das ist ein wichtiger Schritt. Um die Arbeitsbedingungen in der weltweiten Textilindustrie aber wirklich zu verändern, reicht das Gesetz nicht aus: Erstens gilt es nur für sehr große Unternehmen, viele Unternehmen im Modesektor haben aber nur wenige hundert Beschäftigte.[8] Zweitens verpflichtet es Unternehmen nicht dazu, für existenzsichernde Löhne in ihren Lieferketten zu sorgen. Zwar bezieht es sich auf Mindestlöhne in Produktionsländern – diese reichen aber oft nicht zum Überleben. Drittens müssen Unternehmen nach dem Lieferkettengesetz bei indirekten Zulieferern erst dann handeln, wenn sie Hinweise auf Missstände erhalten. Das ist absurd: Gerade in der Textilproduktion treten schwere Unglücke eher am Anfang der Lieferkette auf. Unternehmen sollten hier nicht erst handeln, wenn ein Unglück bereits geschehen ist – dann ist es zu spät. Viertens ermöglicht es das Lieferkettengesetz Betroffenen solcher Unglücke nicht, Schadensersatz von den beteiligten Unternehmen einzuklagen.[9]
Mit dem EU-Lieferkettengesetz zum würdevollen Leben für Näher*innen
Das Lieferkettengesetz hat also Schwächen – und gilt nur für Deutschland. Ein EU-Lieferkettengesetz würde für den größten Wirtschaftsraum der Welt gelten. Das hätte Signalwirkung, auch über den EU-Binnenmarkt hinaus. Damit es in der Textilbranche aber wirklich etwas verändert, muss es die Schwachstellen des deutschen Gesetzes schließen. Das bedeutet: In Risikosektoren wie der Textilindustrie muss es auch für kleinere Unternehmen gelten, das Recht auf existenzsichernde Löhne anerkennen, Sorgfaltspflichten ohne Einschränkungen entlang der gesamten Lieferkette einführen und den Betroffenen mit einer durchsetzbaren Haftungsregelung die Wiedergutmachung von Schäden ermöglichen.
Auf diese Weise hat das EU-Lieferkettengesetz gewaltiges Potenzial und kann dazu beizutragen, Näher*innen weltweit ein würdevolles Leben zu ermöglichen – ob in Pakistan oder Bangladesch, ob in Kroatien, der Ukraine oder El Salvador.
[1] Forensic Architecture (2018). The Ali Enterprises Factory Fire. Veröffentlicht unter: https://forensic-architecture.org/investigation/the-ali-enterprises-factory-fire
[2] Bundeszentrale für politische Bildung (2018). Vor fünf Jahren: Textilfabrik in Bangladesch eingestürzt. Veröffentlicht unter: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/268127/textilindustrie-bangladesch
[3] Studie „Ausbeutung Made in Europe“ von Clean Clothes Campaign und Brot für die Welt, 2020: https://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/Fachinformationen/Sonstiges/Studie_Ausbeutung_Made_in_Europe.pdf
[4] a.a.O.
[5] https://suedostasien.net/kambodscha-keine-macht-dem-proletariat/
[6] Vgl. Urquilla, Jeannette (2020): Informe regional sobre la violencia laboral 2019, S. 22.
[7] https://cleanclothes.org/news/2021/live-blog-on-how-the-coronavirus-influences-workers-in-supply-chains
[8] Verband textil+mode (2017). Die deutsche Textil- und Modeindustrie in Zahlen, S. 14. Veröffentlicht unter: https://www.verband-textil-bekleidung.de/fileadmin/Daten/Rundschreiben-Wirtschaft/RS-2017-Wirtschaftspolitik/zahlen2017_web.pdf
[9] Siehe auch: Initiative Lieferkettengesetz (2021): Fragen und Antworten zum neuen Lieferkettengesetz. https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2021/11/Initiative-Lieferkettengesetz_FAQ-Deutsch.pdf